Unboxing Past

Rimini Protokoll begleitet den Archäologen Dr. Thorsten Sonnemann bei der Öffnung von 105 Archivkartons mit Fundstücken der Börneplatz-Synagoge und lädt ein zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung rund um unsere Praxis der Erinnerung.

02 September 2021 Helgard Haug / Rimini Protokoll

Seit mehr als drei Jahrzehnten lagern 513 graue Archivkartons im Depot des Archäologischen Museums Frankfurt. 105 von ihnen tragen die Aufschrift “Synagoge”, auf den anderen steht “Judengasse”.

1987 und 1990 wurden bei Bauarbeiten und archäologischen Grabungen die Fundamente der Börneplatz-Synagoge freigelegt, die bei den Novemberpogromen 1938 brutal zerstört worden war. Außerdem wurden Reste von Gebäuden aus dem 18. Jahrhundert entdeckt, die zur ehemaligen Judengasse gehören, dem ältesten jüdischen Ghetto in Deutschland, dessen Geschichte bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Die Funde sollten dokumentiert und dann abgetragen werden, um einen Neubau zu ermöglichen.

Die Grabungsfunde wurden gesichert, aber ein Großteil der Funde wurde bis 2020 nicht weiter bearbeitet und in Archivkartons im Depot des Archäologischen Museums Frankfurt aufbewahrt.

(1) 513 Archivkartons bewahren die archäologischen Funde vom Frankfurter Börneplatz.
(2) 105 Archivkartons sind beschriftet mit 'Synagoge' und beinhalten Fliesen, Steine und weitere bauliche Elemente der Börneplatz-Synagoge.
(3) Modell des "weißen Büros", in dem der Archäologe Dr. Thorsten Sonnemann die Archivkartons öffnet – eine Installation im Depot des Archäologischen Museums Frankfurt.

Archäologische Arbeit im Weißen Büro

Begleitet von drei Kameras hat der Archäologe Dr. Thorsten Sonnemann ​​Mitte 2020 in einem eigens gestalteten Raum begonnen, die Archivkartons zu öffnen und den Inhalt systematisch zu erfassen. Nahezu ein Jahr verbrachte er damit, die Kartons zu öffnen und Steine, Kacheln, Scherben, Gebrauchs- und Alltagsgegenstände, sowie auch Teile des brutal zerstörten Toraschreins systematisch zu vermessen, nummerieren, fotografieren, betrachten, analysieren und inventarisieren.

Erschwert wird ihm diese Arbeit dadurch, dass die Zerstörung der Synagoge so angelegt wurde, dass am Ende keinerlei Spuren mehr bleiben sollten von dem, was war.

(4) Einen ersten Einblick in das Projekt erlaubte unser Event "Mapping Memories". Eine Videoinstallation zeigte die akribische Arbeit von Dr. Thorsten Sonnemann im Depot des Archäologischen Museums Frankfurt.
(5) Helgard Haug und Dr. Thorsten Sonnemann im Gespräch über seine Arbeit.
(6) Aus drei Perspektiven wird die Arbeit von Dr. Sonnemann dokumentiert und so für die Öffentlichkeit nachvollziehbar gemacht.
(7) Beim Event diskutierte Helgard Haug mit (v.r.n.l.) Moritz von Rappard, Dramaturg im Projekt, Dr. Angela Jannelli (Historisches Museum Frankfurt) und Leon Joskowitz (Philosoph & Künstler) künstlerische Strategien im Umgang mit Erinnerung.

Unboxing Past öffnet Archive

“Unboxing Past” ist ein künstlerisches Projekt, das erstmals in der Geschichte bedeutender archäologischer Vorgänge in diesem Umfang die Öffnung der Archivkartons und die damit verbundenen Arbeitsprozesse des Archäologen mit drei Kameras und einem Audioaufnahmegerät akribisch begleitet. So kann man viele Stunden beobachten, was sonst nur im Verborgenen stattfindet: "Unboxing Past" zeigt nicht nur, wie die Fundstücke selbst wieder ans Licht kommen. Erstmals wird auch in aller Ausführlichkeit gezeigt, wie der Archäologe die Fundstücke handhabt.

In einem nächsten Schritt lädt “Unboxing Past” in einen digitalen Begegnungs- und Archivraum ein, der in Kooperation mit dem Projekt Motion Bank an der Hochschule Mainz entsteht. Unterschiedlichste Menschen werden in kleinen Gruppen für einen zweistündigen Austausch zur Auseinandersetzung mit den Aufnahmen zusammenkommen.

Anders als der Archäologe Dr. Sonnemann arbeiten sie mit ihren ganz eigenen Mitteln an einer denkbaren Zukunft der Steine. Statt Zollstock und Waage dienen ihnen Leitfragen zur Orientierung: Wie sollte man mit den Fundstücken in digitalen wie auch analogen Welten umgehen? Und viel grundlegender: Wie erinnern, wie gedenken wir Gegenständen oder Geschichten, die uns wichtig sind, und welche Verantwortung erwächst aus dem Umgang mit Zeugnissen von Vergangenem?

Beteiligte

mit dem Archäologen Dr. Thorsten Sonnemann

Konzept, Regie: Helgard Haug / Rimini Protokoll
Dramaturgie: Moritz von Rappard
Mitarbeit Produktion: Hannah Baumann, Özlem Türkan
Filmschnitt: Juan Pablo Bedoya
Raumausbau: Hagen Bonifer
Videoeinrichtung: Yannic Bill
Entwicklung und Gestaltung Digitaler Begegnungsraum: Fachrichtung Kommunikationsdesign des Fachbereichs Gestaltung der Hochschule Mainz (Isabela Dimarco, Jean Böhm, Prof. Florian Jenett)
Verantwortliche METAhub: Jeanne Charlotte Vogt & Marcus Droß

(8) Fotos: Jessica Schäfer & Erie Ehrenberg

Unboxing Past von Helgard Haug/Rimini Protokoll wird realisiert mit freundlicher Unterstützung durch “experimente#digital – eine Kulturinitiative der Aventis Foundation”, im Rahmen von METAhub Frankfurt.